Ich habe nun Tanja Wittings Buch fertig zusammengefasst, und kann es jetzt endlich der Bibliothek zurückgeben, die momentan wirklich nichts Besseres zu tun hat, als mir ständige Wiederrufe der Verlängerung, Mahnungen und anderes ekliges Zeugs zu schicken! :P
Heute habe ich mich mit dem Teil mit den ethisch-moralischen Transfers beschäftigt. Finden sie statt, oder finden sie nicht statt?
Von den 80 Probanden von Tanja berichten 75 (!) von Transfers ethisch-moralischer Natur. Allerdings nicht von der virtuellen in die reale Welt, sondern umgekehrt, von der realen in die virtuelle. Selbst bei Personen, die berichten, dass bei ihnen kein Transfer in diese Richtung stattfindet, findet er dennoch statt, aber eine Stufe vorher: nämlich bei der Spielauswahl. Solche Leute spielen dann schon gar nicht erst Spiele, die sie anstößig fänden.
Ein ethisch-moralischer Transfer findet allerdings wohl statt: nämlich in online-Spielen (gerade in solchen sozialen Spielen wie Rollenspiele, wo man aufeinander angewiesen ist): dort, wo man beobachtet wird, und wo die eigenen Handlungen auch bemessen und bewertet werden. Dort, wo man nicht einfach einen alten Stand laden und weiter spielen kann.
Es gibt ja so Leute, die gemeint haben, das ginge (bspw. indem sie ninjalooteten). Mit der Zeit sprach sich das rum, die Leute kamen in keine Gruppe mehr rein, und hatten von niemand mehr Hilfe zu erwarten. Selbst ein Severwechsel oder die Erstellung eines neuen Charakters konnte die Situation oft nicht mehr voll lösen, da die Kommunikation inzwischen sehr ausgefeilt ist, und das Netz niemals irgendwas vergisst.
Wie auch immer.
Ethische-moralische Transfers finden statt, überwiegend (wenn auch nicht ausschließlich) von der realen in die virtuelle Welt. Und das erkennt man daran, wenn man die Spieler mit Sachen konfrontiert wie: im Spiel ein Kind / eine wehrlose Frau / ein Tier schlagen (können/wollen die Wenigsten), politische Propaganda oder pornographische Inhalte.
Auf das Töten trifft es deshalb nicht zu, weil es eine etablierte Form des spielinternen Ausschaltens virtueller Widersacher darstellt, welches über die Simulation von Tötungsvorgängen visualisiert wird.
Allerdings scheint in ihrer Untersuchung für die Spieler notwendig zu sein, dass die Spielszenarien sich deutlich von der wirklichen Welt unterscheiden. Wird die Spielwelt zu realistisch, kann sie beim Spieler eine "ethisch-moralische Betroffenheit" auslösen, weil die sog. Rahmenkompetenz flöten geht. Das Wissen um die Konsequenzlosigkeit der virtuellen Welt geht verloren, und die virtuelle Gewalt kann nicht mehr lustvoll genossen werden. Deshalb bevorzugen die Spieler eine Spielgestaltung, "die von den Merkmalen der realen Welt abweicht und es ihnen erlaubt, das Geschehen auf dem Bildschirm ausschließlich als virtuell zu rahmen. Werden jedoch vor allen gewalthaltige Spielelemente als zu "realistisch" empfunden, zerbricht dieses Rahmungsbemühen. Die bis dahin verwendeten medienspezifische Lesart der dargestellten Tötungsvorgänge als virtuelle Umsetzung des Spielprinzips des Ausscheidenlassens und wird überlagert von einer realweltlichen Lesart." (Witting, Tanja. Wie Computerspiele uns beeinflussen. Transferprozesse beim Bildschirmspiel im Erleben der User. Magdeburg: kopaed, 2007, S. 237)
Nach wie vor sehr lesenswert! :)