Mittwoch, 20. August 2008

Auf den Tag genau...

Vor einem halben Jahr, auf den Tag genau, habe ich die Erstversion meiner Diss abgegeben. War ich damals noch total happy und freudig erregt, war heute, bei meiner "Zweitabgabe" nichts davon zu spüren. Es könnte damit zusammen hängen, dass ich letzte Nacht noch bis sehr spät an DEM DING saß. Ich hatte mir vorgenommen, dass ich DAS DING heute zum Drucken gebe - egal wie spät es letzte Nacht werden sollte. Naja, für meine Verhältnisse wurde es sehr spät! ;)
Aber um 1h30 hatte ich den "Endzustand" erreicht: alle Kapitel korrigiert, Tabellen und Bilder überarbeitet, fehlerfreie Kompilierung.

Heute morgen war ich noch bei meinem LateX-Guru, wir haben einige Kleinigkeiten noch überarbeitet. Bis wir soweit waren, hatten wir viel Zeit gebraucht, um alle Packages bei ihm so zu laden, dass DAS DING überhaupt kompilierbar war. Naja, irgendwann war es fertig kompiliert, gedruckt und gebunden. Doch statt unglaublicher Freude und stolzgeschwollener Brust... War nur ein Gefühl von Verlorenheit und Leere da. Klar, letzte Nacht, als ich an DEM DING saß, gingen mir alle Gedanken durch den Kopf, die ein Mensch in dem Zustand haben kann: es stehen nur Selbstverständlichkeiten drinnen, ich erzähle nichts Neues, es ist schlecht geschrieben... Nein, es stimmt natürlich nicht. Die Arbeit ist super, innovativ, toll, meine Interviewpartner geben einen tollen Einblick, und das ganze fügt sich zu einem Ganzen zusammen. Mein Doktorvater warnte mich: es dauert ca. 5 Jahre, bis man das, was man geschrieben hat, gut finden kann. Vermutlich hat er recht.

Die letzten Wochen waren unerwartet hart. Die Zerrissenheit zwischen abgeben oder behalten und verbessern, das Gefühl, wohlgemeinte Korrekturvorschläge sind persönliche Kritik. Gleichzeitig denkt man, das Ende ist schon absehbar, und wenn man doch nur noch ein bisschen länger durchhalten könnte, dann wäre man auch fertig. Stattdessen zieht es sich unglaublich in die Länge. Man befindet sich in einem Ausnahmezustand, der einem oft gar nicht klar ist.

Und dann... Wenn alles getan ist, was man tun konnte... Wenn alles korrigiert und kompiliert ist... Tut es einem richtig Leid. Klar, ich wollte DAS DING abgeben. Ich will wieder Freizeit haben (das ist das Problem, wenn man nebenberuflich promoviert: es geht jeder freie Abend und jedes Wochenende für DAS DING drauf!). Ich will endlich die Sachen alle fertig nähen, die halb zusammengefügt im Schrank liegen. Ich will mich um meinen Garten kümmern. Will die Wohnung wieder in Schuss bringen. Will den Schrank ausmisten. Will wieder meine Freunde treffen. Bücher lesen! Einfach so, ohne Stift in der Hand, um wichtige Stellen zu markieren. Lesen, weil lesen total Spaß macht. Habe mit Steffen tausend Sachen vor. Will wieder bloggen. Leute besuchen. Filme gucken, ins Kino gehen. Meine 12.000 Bilder taggen. Oder einfach mal nichts tun: mich hinsetzen und die Gedanken schweifen lassen. Ohne das Gefühl zu haben, ich müsste unbedingt etwas anderes machen.

Und doch muss genau das wieder gelernt werden. Man gewöhnt sich so sehr daran, jede freie Minute immer nur in die Diss zu investieren, dass man danach wieder aktiv schauen muss, was man mit seiner freien Zeit macht.


Doch was wäre eine Diss wert, wenn ich durch sie nicht auch für mein Leben relevante Dinge gelernt hätte?

Aus dem Kapitel Langeweile:
"Für Feibel (2004) ist auffällig, dass Kinder und Jugendliche heute kaum noch in der Lage sind, Langeweile zu ertragen. „Für Langeweile gibt es absolut keine Toleranz. Sie mag zwar schon früher schwer gefallen sein, aber heute können Kinder in ihrer Kinderzimmer-Medienanstalt viel schneller einen Knopf drücken, um sie wie eine lästige Fliege zu verscheuchen. Wem langweilig ist, der macht eben einfach den Fernseher an, schaltet den Computer ein oder beides. Im Fernsehen läuft immer etwas. Im Computerspiel ist immer etwas los (und im Internet genauso). Die heutige Jugend kann Langeweile schwerer ertragen, weil sie sich viel leichter, schneller und unkomplizierter unterbinden lässt“ (Feibel, 2004, S. 121).
Diese Verhaltensform beschränkt sich nicht nur auf Kinder und Jugendliche. Auch Erwachsene haben die Toleranz zur Langeweile verloren. Die einzige noch zugestandene Form der Langeweile ist, „wenn sie sich mit den Medien langweilen“ (Feibel, 2004, S. 121). Er beklagt diese Folge einer Konsumgesellschaft, weil gerade in Momenten der Langeweile den Menschen bewusst werden könnte, wie ihr Leben tatsächlich aussieht. Für ihn ist die Anerkennung und Überwindung des Gefühls der Leere, das die meisten erschreckt, eine der schwierigsten Übungen des Lebens (Feibel, 2004, S. 121 f.). Im Gegensatz dazu versuchen Menschen, Langeweile blitzartig zu beseitigen, kaum dass sie am Horizont auftaucht. Sie sehen Langeweile als ihren natürlichen Feind und verfügen über eine große Anzahl technischer Möglichkeiten, sie in die Flucht zu achlagen. Er mahnt, dass Langeweile „ein ganz wunderbarer Ruhemoment zwischen zwei Schritten [sein könnte]. Wen das nicht schreckt, der nimmt sich seine Zeit und lässt aus Langweile Muße entstehen, die wiederum einen höchst kreativen Prozess in Gang setzen kann. Die besten Ideen entstehen aus Langeweile. Kinder und Jugendliche schauen sich bei uns genau ab, wie wir mit ihr umgehen. Wer aber seinen Kindern beibringt, Langeweile ohne technische und sonstige Hilfsmittel zu ertragen, ihnen zeigt, wie man auch mal bequem herumgammeln kann, bringt ihnen nicht nur bei, wie sie sich bewusst mit Konsum auseinander setzen, sondern betreibt aktive Suchtprävention“ (Feibel, 2004, S. 122)".


Was er da beschreibt, ist aus PSI-theoretischer Sicht hochinteressant. Langeweile ist nämlich ein Zustand niedriger Kompetenz, in dem auch keine Kompetenz getankt werden kann, weil die Umgebung schon zu bekannt ist (also keine Unbestimmtheit mehr bietet). Langeweile aushalten heißt nun, dass man das Bewusstsein der eigenen geringen Kompetenz zulässt, ohne etwas zu unternehmen, um sie zu steigern. Wenn ich weiß, dass ich Langeweile unbeschadet überstehen kann, erhöht sich mein Selbstvertrauen, also ich tanke Kompetenz dadurch, dass ich weiß, ich gehe nicht unter, wenn ich keine habe. In diesem Moment wäre die Langeweile per Definition keine mehr, weil der Zustand niedriger Kompetenz nicht mehr gegeben ist, sie hätte sich in Muße verwandelt.