Dienstag, 26. August 2008

Kindheit und Verstädterung

In meiner Diss ist der "Abschluss" des Kapitels "Geschichte des Spiels" der, dass digitale Spiele notwendigerweise entstehen mussten, es ging gar nicht anders. Auf die genaue Argumentation möchte ich hier nicht eingehen (weil zu lang!), aber es hängt damit zusammen, dass Sport zunehmend institutionalisiert wurde, und der freie Platz immer weiter abgenommen hat. Ein weiteres Argument ist das der Verstädterung:
(abgewandeltes Zitat aus der Diss, Einführung von Kapt. 4: "Digitale Spiele"):
In städtischen Räumen können Kinder sich nicht so frei bewegen wie auf dem Land. Sie sind ständiger Aufsicht unterstellt und haben nicht die Möglichkeit, allein unter ihresgleichen bestimmte Themen abzuarbeiten. Sie können nicht einfach eigenständig durch die Gegend ziehen, Dinge entdecken, Abenteuer erleben, Macht- und Hierarchiekämpfe austragen, sich prügeln, rennen, klettern, (hin-)fallen, wieder aufstehen. Kinder müssen sich gerade in Städten meist auf engem Raum aufhalten, dürfen — wenn überhaupt — draußen nur auf Bürgersteigen oder in extra dafür eingerichteten Spielplätzen spielen. Freie Plätze gibt es nicht — dafür ist der Baugrund zu teuer.
Fangen, Verstecken, Rad fahren sind gerade für Kinder schlicht unmöglich.
Deswegen mussten neue Bereiche erschlossen werden, die dieser Institutionalisierung und Betreuung nicht unterstanden. So, könnte man in aller Kürze sagen, entstanden
die digitalen Spiele.

Zum Thema Verstädterung empfehle ich den Podcast, der mir die Idee zu dieser Überlegung lieferte:
SWR2 Wissen
Adieu, wilder Lausebengel! Stadt - und Landkindheit im 21. Jahrhundert


Heute hörte ich eine andere Sendung, die sehr eng damit zusammenhängt:
SWR2 Leben
Vom Schwinden der Erfahrungen und der Überfahrungen

Darin geht es um die Rolle von Autos und Kindern in der Gesellschaft.
Der Autor erzählt, wie er als 7-jähriger einen schweren Verkehrsunfall baute, und stellt fest, dass sein Kind "freilich aus einem ganz anderen Holz geschnitzt [ist]. Es sitzt am liebsten zuhause vor dem Computer oder guckt Filme an. Damit steht es nicht allein. Die Forscher nennen diesen Trend "Verhäuslichung"".
Er interviewt Prof. Dr. Baldo Blinkert, Soziologe an der Uni Freiburg. Dieser stellt fest, dass diese Verhäuslichung nur dann zutrifft, wenn der Aktionsraum schlecht, gefährlich oder langweilig ist, wenn keine Gesellschaft von anderen Kindern da ist.
Wenn der Aktionsraum dagegen erfreulich ist, dann stimmen diese Trends nicht, dann sind Kinder sehr viel draußen, was er als positiv wertet, da der Aktionsraum beeinflussbar ist - man muss es nur wollen und die entsprechende Stadtentwicklungspolitik betreiben.
Durch das Auto machen Kinder nämlich eine bestimmte Art von Erfahrung, andere dagegen nicht: sie lernen die Wichtigkeit der Zeit (alles muss immer schnell gehen, man hat keine Zeit zu verlieren), und die Unwichtigkeit des Raums (der muss einfach nur überbrückt werden!). Was das für Auswirkungen auf die kindliche Entwicklung hat, macht Dr. Hüttenmoser, Leiter der Forschungs- und Dokumentationsstelle "Kind und Umwelt", z.B. an den Zeichnungen des Schulwegs von Kindern fest, die mit dem Auto zur Schule gefahren werden: sie sind sehr detailarm. Die Kinder erleben die Wege nicht, sie "springen" von einer "Insel" zur nächsten.
Dr. Hüttenmoser macht auch noch auf die Missverständlichkeit von Verkehrsstatistiken aufmerksam: Die verkündet seit dreißig Jahren einen kontinuierlichen Rückgang der kindlichen Unfallopfer um etwa die Hälfte. Dies quittiert er lapidar mit: "Die Erkenntnis ist eigentlich völlig banal. Sie lautet nämlich ganz einfach: was sich nicht auf der Straße bewegt, kann nicht überfahren werden", und wie Autos Kinder und ältere Menschen von der Straße verdrängt sei nie gemessen worden... Darüber hinaus seien die Hälfte der Verkehrsunfälle mit Kindern solche, wo Kinder als Beifahrer betroffen sind.

Ich finde diese Überlegungen deshalb so hoch relevant, weil sie eine Kausalitätsumkehrung darstellen. Häufig werden digitale Spiele und Medien generell für die Verhäuslichung verantwortlich gemacht. Diese Überlegung zeigt, dass es sich auch genau andersherum verhalten kann: Spiele sind natürliche Konsequenzen einer gesellschaftlichen Entwicklung, die WIR geschaffen haben...