Sonntag, 7. September 2008

Verloren in virtuellen Welten (Teil 2 von 2)

(Weil der Eintrag zu lang wurde, hier die Teile von Prof. Emrich und Dr. Stefanie Lampen-Imkamp, Klaus Wölfling und die Podiumsdiskussion. Für Thomas Graf, Michael Grunewald, Spielerinterview und Prof. Lukesch siehe Teil 1)

Nach Lukesch war die Präsentation
14.15 Uhr Phänomenologie, Diagnostik und Therapie der Internet- und Computerspielabhängigkeit von Prof. Dr. Hinderk Emrich und Dr. Stefanie Lampen-Imkamp aus der Abteilung Klinische Psychiatrie und Psychotherapie der Medizinischen Hochschule Hannover (der auch Bert te Wildt angehört) eine wahre Erholung.
Ich habe ja gewisse Differenzen zum Ansatz von Bert te Wildt (Gratulation zur Hochzeit! :) ), aber ich kann dem auch einiges abgewinnen. Die Ergebnisse sind nach wie vor die gleichen, nämlich dass Abhängigkeit von digitalen Spielen nur ein Symptom einer zugrundeliegenden psychischen Störung ist. Es gibt wohl Ansätze, die Abhängigkeit von digitalen Spielen als eigenes Krankheitsbild ins DSM-V oder ICD-11 unterzubringen. Interessanterweise haben Patienten, die gegen das Parkinson-Syndrom mit Dopamin behandelt wurden, oft eine Internetabhängigkeit entwickelt, obwohl sie früher keinerlei Symptomatik in der Richtung hatten (darüber hatte ich schon etwas gelesen, kann leider nicht mehr nachvollziehen, wo das war...).
Erstaunlicherweise wurde der Name "Grüsser-Sinopoli" während dieses Vortrags zum ersten Mal erwähnt, die eigentlich den State of the Art in Deutschland entschieden mitgeprägt hat!
Allemal waren sie sich einig, dass die Abhängigkeit oft für den Patienten bereits die Lösung eines Problems darstellt (weil er mit seiner eigentlichen psychischen Störung nicht umgehen kann, greift er zum Spiel, um damit besser klar zu kommen). Dies wiederum hat zur Folge, dass dem Patienten etwas geboten werden muss, damit er auf seine bereits etablierte Lösung verzichtet. Oder, um mit Prof. Emrich zu sprechen: Wenn man dem Patienten die Krücken wegnimmt, können weitere sekundäre Symptome auftreten, z.B. eine suizidale Krise.
Fr. Dr. Lampen-Imkamp machte sehr deutlich, dass sie dem Patienten niemals etwas verbieten würde, und dass auch das Ziel der Therapie es nicht sei, abstinent zu werden. Vielmehr werden mit dem Patienten Ziele und Zeiträume ausgehandelt, die dann umgesetzt werden (unterstützt durch Coaching).

Nach der Kaffeepause stellte Klaus Wölfling, aus der Ambulanz für Spielsucht der Abteilung für Medizinische Psychologie der Universitätsklinik Mainz das Thema "Ambulante Gruppenpsychotherapie bei Computerspielsucht" vor.
Der Ansatz ist interessant, strebt aber einer vollkommenen Abstinenz an.
Was ich an der Vorgehensweise problematisch finde, ist die Einstufung von medienorientierten Lösungen als "dysfunktional" ein, während z.B. "spazieren gehen" als eine funktionale Lösung gegen negativen Gefühlen verstanden wird. Ist es nicht etwas willkürlich?
Klar, die Probleme lösen sich nicht von allein, während jemand digitale Spiele spielt - aber beim spazieren gehen ja auch nicht. Wenn es nur darum geht, einen klaren Kopf zu bekommen, Stress abzubauen oder die eigene Stimmung positiv zu verändern sind digitale Spiele vielleicht genauso effektiv wie Musik, spazieren oder Sport...?
Für ihn ist klar, dass das Abhängigkeitskriterium der Kontrollverlust ist. Ein Vielspieler ist nicht automatisch süchtig, wenn sich auch in seiner Untersuchung zeigte, dass Abhängige deutlich mehr Zeit spielten.

Schließlich kamen wir zu der großen Podiumsdiskussion. Daran nahmen Teil:

v.l.n.r.: Klaus Wölfling, Prof. Dr. Helmut Lukesch, Moderator Stefan Baier, Thomas Graf, Kirstin Koch (JA Frankfurt/Main), Dr. Stefanie Lampen-Imkamp, Prof. Dr. Hinderk Emrich, Jürgen Hardt.

Die Diskussion ging wahrlich heiß her. Ich will hier nur einige Punkte hervorheben, die vorher noch nicht zur Sprache kamen:
Prof. Emrich betonte die haltgebende Funktion des Internets für einsame Menschen. Das sei vielleicht keine Dauerlösung, aber zwischen nichts zu haben oder nur Beziehungen über das Internet, sei das zweite doch vorzuziehen.
Hr. Hardt machte darauf aufmerksam, dass die Jugendlichen Räume brauchen, die den Erwachsenen verschlossen bleiben, weil sie sie nicht verstehen. Mehr als das: Jugendliche haben ein Recht auf Unverständnis, da das Unverständnis dadurch entsteht, dass etwas Neues gebildet wird, was sinnvoll und notwendig ist.
Prof. Lukesch vertrat erstaunlich offen die Meinung, dass alles, was seinem Geschmack nicht entspricht, auch nicht als Kultur verstanden werden dürfe. Weil er mit der Ästhetik der digitalen Spiele nicht einverstanden sei, sprach er ihnen den Status als Kultur ab.
Hr. Graf wurde nicht müde, darauf hinzuweisen, dass die Jugendlichen dort abgeholt werden müssen, wo sie sind. Es bringt - gerade in der therapeutischen Situation - nichts, wenn die Erwachsenen herablassend Dinge bewerten, die sie nicht kennen und nicht verstehen.
Prof. Emrich bat darum, nicht zu vergessen, dass die generelle Sinnstellung im Leben gefragt ist. Wenn Jugendliche nur eine Welt kennen, in der das Funktionieren alles ist, was zählt, und sie ständig im wirklichen Leben lediglich eine Rolle spielen, macht es für sie keinen Unterschied, ob sie das im Reallife oder im Spiel tun. Die Ästhetik im Internet sei nur ein Spiegel der Ästhetik im wirklichen Leben. Das Internet sei nur eine Kristallisation eines abstrakten, entseelten Lebens, in dem der 3. Weltkrieg ständig grassiert, in der Form, dass jeder jeden und alles bekriegt.
Hr. Wölfling bemühte die Kommunikation als wichtigstes präventives Instrument und plädierte für Verständnis für die Situation der Jugendlichen.
Hr. Hardt machte auf eindrucksvolle auf die Werte aufmerksam, die im Internet auch vertreten werden. Das machbare muss gegen das ethisch vertretbare abgewogen werden. Die heutige Jugend hat auch Werte, man muss nur hinsehen.
Für mich ist klar, dass es unmöglich und unnötig ist, zu versuchen, Werte von früher den heutigen Jugendlichen überzustülpen.
Ich mag mich sehr täuschen, aber die Leistungsanforderungen, die weltweite Mobilität, die Unsicherheit (befristete Verträge, Arbeitslosigkeit) denen Jugendliche ausgesetzt sind, kennen ältere Erwachsene einfach nicht. Auch sie wären einer solchen Situation nicht ohne Hilfsmittel gewachsen.

Es war eine sehr gute Diskussion, und eine sehr gute Veranstaltung. Ich habe zahlreiche Kontakte geknüpft, die sicherlich noch Dinge nach sich ziehen werden. Welche, bleibt abzuwarten.
Ich fand es sehr, sehr schade, dass das Publikum scheinbar für diese Art von Veranstaltung einfach noch nicht bereit ist. Sie wollen sich mit diesen Themen nicht wirklich auseinander setzen, sondern nur darin bestärkt werden, dass dies alles zu verteufeln sei. Ich bin keine Prophetin, aber ich wage eine Vorhersage: es wird nicht funktionieren. Die Welt verändert sich, und wer mit Menschen arbeitet, der wird sich anpassen müssen. Wer Kinder hat, wird sich anpassen müssen. Ich halte es für unmöglich, dass man in seinen Ansichten steif bleibt und trotzdem überlebt. Die Welt verlangt nach Flexibilität. Wir können gerne hinterfragen, ob wir eine solche Welt wollen, und versuchen, sie zu ändern. Aber ich denke nicht, dass das so funktioniert, dass man bewährte Lösungsmethoden einfach nicht berücksichtigt...
Diese Diskussion ist noch lange nicht zu Ende und ich freue mich, dass sie stattfindet. Ich freue mich aufrichtig darüber, gestern einige wenige Menschen kennengelernt zu haben, die offen für das Thema sind und sich ernsthaft damit beschäftigen. Es gibt schließlich auch bei (einigen) Psychotherapeuten noch Grund zur Hoffnung...